Storyteller in Deutschland

Ray Davies in Hamburg, Berlin und Köln 1998

von Helge Buttkereit

Ray Davies in Köln 1998, Foto: Edgar Zens/SchererIch konnte die Kinks nie live sehen. In dem Jahr (1993), als ich Kinks-Fan wurde, spielten sie im Hamburger Stadtpark, aber da ich erst auf dem Weg zum richtigen Fan war, ging meine Urlaubsplanung vor. Es sollte sich keine Chance mehr bieten, die Band zu sehen. Im Dezember des gleichen Jahres spielten sie noch einmal in Deutschland, aber ich war immer noch nicht Fan genug, um nach Flensburg zu fahren. Ich musste also ganze fünf Jahre warten, um erstmals ein Mitglied der Kinks zu sehen und es war gleich das wichtigste: Kurz nach der Veröffentlichung des Storyteller-Albums kam Ray Davies für drei Konzerte nach Deutschland. Ich hatte damals gerade mein Studium begonnen, mein Zivildienst-Geld war durch den Umzug von Alveslohe bei Hamburg nach Leipzig aufgebraucht, aber es war keine Frage, dass ich nach Hamburg und Berlin fahren wollte.

Um Kosten zu sparen, ging es früh am 17. April mit einer Mitfahrgelegenheit von Leipzig in den Norden. Ich war aufgeregt, meine Fahrerin war etwas befremdet und sie musste Ray Davies' neues Album "Storyteller" hören, denn ich hatte natürlich eine Kassette mitgenommen. Das Album war einen Monat zuvor erschienen und gemeinsam mit der bevorstehenden Tour hatte es etwas Aufmerksamkeit auch in den Medien erregt. Einiges mehr sollte allerdings noch kommen. Schon auf der Fahrt wurde mir das deulich, denn noch auf der Autobahn kaufte ich mir ein aktuelles Exemplar des Hamburger Abendblatts mit einem aktuellen Ray-Davies-Interview. Nicht dass es besonders interessant oder aussagekräftig gewesen sei, schön war die Aussage über die Stones ("Sie sind zwar eine Band von Verrückten, aber sie haben es immer noch drauf."). Die Fragen zu den Kinks wurden zu dieser Zeit immer dahingehend beantwortet, dass die Band wieder in der Urbesetzung zusammenkäme. Gerüchte über eine Wiedervereinigung gab es in der Folge viele, wir wissen, was daraus geworden ist.

In Hamburg kam ich relativ früh an, so dass ich noch etwas Zeit hatte, auch wenn ich mich kaum auf etwas wirklich konzentrieren konnte. So besorgte ich mir noch etwas zu essen und lief ein wenig in der Gegend herum, bis ich dann sehr frühzeitig ins Curio-Haus aufbrach. Dort waren noch wenig Leute, ich unterhielt mich mit ein paar Fans und schaute mir den nicht besonders umfangreichen Bühnenaufbau an. Die Zeit ging nicht schnell vorbei, und Ablenkung gab es auch kaum, denn meine Freunde aus der alten Heimat ließen auch auf sich warten. Sie sollten erst kurz vor Beginn kommen -- gerade rechtzeitig als Ray Davies nach Fanfarentönen die Bühne betrat.

Ich kannte das Buch X-Ray, ich hatte das Storyteller-Album gehört und so war mir die Show vertraut. Das Ganze nun einmal live zu erleben war etwas Besonderes. Das Curio-Haus in Hamburg-Rotherbaum war ein perfekter Ort für das Konzert. Die ehemalige Mensa der Uni Hamburg ist ein intimer Platz, bei dem das Publikum sehr dicht dran war und die Interaktion gut funktionierte. Davies hatte auch viel Freude daran, wie seine Spielfreude zeigte. Er genoss das Konzert so wie auch alle im Publikum. Zum Aufwärmen gab es gleich "Lola", er wollte wohl denjenigen zeigen, die nur durch Zufall vorbeigekommen waren, wer er denn sei. Das wäre nicht unbedingt nötig gewesen, aber im Konzert war mir das damals völlig gleichgültig. Vermutlich hätte ich damals auch das ganze Konzert "Lola" mitgesungen, aber auch so sang ich den Großteil mit. Meine Umgebung mag sich darüber nicht immer gefreut haben, aber das war mir egal. Das gehörte einfach dazu und außerdem war ich sicher einer der wenigen, die "Storyteller" oder "London Song" auswendig konnten.

Ray Davies erzählte seine übliche Geschichte, die ich damals auch schon fast auswendig konnte, versicherte, er stamme nicht aus Düsseldorf und dann wurde er berichtigt. Offenbar hatte ein Besserwisser das Storyteller-Album auch schon öfter gehört und als Davies dann von "six older sisters" sprach, wurde er in "five" berichtigt. Dass die sechste in Davies' Jugendzeit starb, ist einer der tragischen Punkte der Kinks-Geschichte und da war dieser Einwurf völlig überflüssig. Eher angebracht wäre er bei Davies’ Rückdatierung des Geburtstags des Bruders, diesmal ins Jahr 1943. Dave erhielt einigen Applaus, auch wenn er nach Davies nur "a minor character in this piece" wäre. Dass er den auf die Erwähnung des kleinen Bruders folgenden Applaus in der CD-Version mit einer Fanfare übertönt, ist schon ein starkes Stück.

Plakat aus Hamburg, Foto: Helge ButtkereitDas Konzert war auch im Rückblick betrachtet großartig, Davies' Stimme war in bester Verfassung, und er spielte neben den Hits auch die neuen Storyteller-Songs, brachte den Saal zum Lachen, als er zu "That Old Black Magic" wundervoll durch Schlüsselloch stibitzte, und das Curio-Haus kochte, als er zum Abschluss mit "You Really Got Me" abrockte. Über zwei Stunden stand Davies schon auf der Bühne, eine Pause wie heute gab es damals noch nicht, aber eine Zugabe. "Waterloo Sunset" wurde ein krönender Abschluss und danach konnte ich weder klatschen noch singen, war aber glücklich und freute mich bereits auf den kommenden Tag, denn die "Vergnügungsreise in die Vergangenheit der Kinks", wie "Die Welt" am folgenden Montag titeln sollte, konnte ich mir gut noch einmal antun.

Mein Weg führte mich also am 18. April nach Berlin. Um Kosten zu sparen wählte ich den BerlinLininenBus, der nur knapp die Hälfte der Bahn kostete und das war bei den für mich damals sehr hohen Ticketpreisen notwendig. Dadurch verpasste ich allerdings unter Umständen eine Begegnung mit unserem Helden, denn wie später zu lesen war, fuhr dieser ICE. Wolfgang Döbeling begleitete ihn und im deutschen "Rolling Stone" erschien ein umfassendes und interessantes Ray-Davies-Interview. Döbeling ließ darin von seiner Liebe zu Oasis ab und bekannte sich als Kinks-Fan. Er kritisierte nur: "Störend sind allenfalls die ständigen Versuche seinerseits, das Publikum zu involvieren, zum Mitsingen oder Mitklatschen zu bewegen. Und das seit unseligen 'Lola'-Tagen nicht mehr wegzudenkende, selten animierende Call & Response-Ritual mit dem Brunft-Geheul aus dem 'Banana Boat Song', 'Eeiioo, eeeeeiiiioooo!' Und jetzt alle? Nein, danke." Döbeling ist eben auch Kritiker und hier hat er wohl recht, Davies hingegen konnte "nichts schlechtes darin erkennen" und machte es in Berlin wieder.

Die "Hochschule der Künste" in der Nähe vom Bahnhof Zoo war zumindest vom Namen her ein passender Ort, allerdings war es der Saal nicht. Er wirkte eher wie ein steriles Kino, als wie ein intimer Ort für eine Konzert-Lesung und so ganz sprang der Funke auch nie rüber. Davies versuchte zwar gleich zu Beginn, durch eine kleine Veränderung im Programm die Intimität herzustellen, aber auch ein hervorragendes "A Rock'n'Roll Fantasy" konnte das Berliner Publikum nicht richtig bewegen. So blieb das ganze Konzert distanziert, aber laut. Was das Programm angeht, war es außer dem zusätzlichen Song eine Wiederholung des Hamburgers. Die Presse hingegen feierte Davies, keine der Besprechungen in der vielstimmien Berliner Zeitungslandschaft war negativ.

Die wohl beste Besprechung erschien im "Tagesspiegel", der die Show so zusammenfasste: "Wir wollten Freiheit. Wir bekamen Moden". Der Autor zieht Vergleiche zu David Bowie, der sich an den digitalen Zeitgeist angepasst habe, und zu den Stones, die sich in immer höhere Stadion-Dimensionen hoch rüsten würden. Davies hingegen geht den umgekehrten Weg und "wirkt ... wie ein dreihundert Jahre zu spät geborener Bänkelsänger, der nichts weiter will, als über die Dörfer zu ziehen und eine gute Zeit mit ein paar Freunden zu haben." Eben wie der Song "Storyteller" sagt: "Die Geschichten, die ich erzähle, gibt es schon seit Jahrhunderten und ich schwöre, dass sie wahr sind."

Ray Davies in Köln, Foto: Edgar Zens/SchererDie "Berliner Zeitung" sah ihn nicht als Bänkelsänger, sondern als Comedian. Der Autor leitet seine vier Absätze jeweils mit einer Charakterisierung ein: "Ray Davies ist ein Spielverderber", weil er sich nicht auf den Lorbeeren der Britpop-Generation ausruht, "Ray Davies ist ein Erzähler", "Ray Davies ist ein Gentleman", weil er noch eine Zugabe trotz langem Programm gab. Am interessantesten wohl der dritte Absatz: "Ray Davies ist ein Unterhalter. Er setzt die Pointen so sicher, als sei er sein ganzes Leben nichts anderes gewesen als ein Stand-Up-Comedian. Seine Anekdoten sind fein ausgearbeitete Miniaturen..." Ein verhinderter Bänkelsänger als Stand-Up-Comedian, der das Publikum als Guide auf eine Zeitreise führt, um noch den kurzen und ansonsten nichts sagenden Bericht des Revolverblatts "B.Z." zu zitieren. Keine neuen Attribute gab es von der "Berliner Morgenpost", in der die Show vor allem treffend nacherzählt wurde. Vielleicht ist die Bildunterschrift noch am aussagekräftigsten, wenn Davies als "charmante Plaudertasche" bezeichnet wird. Er plaudert allerdings zu viel von Projekten, er sollte sie machen. So sagte er schon 1998 im Interview mit "Gitarre und Bass": "Als nächstes mache ich ein Solo-Album, im Studio, das erste überhaupt."

Kinks-Fan Ernst Hofacker war auch in Berlin und der "Musik Express/Sounds"-Autor stellte fest: "Verfügten alle Menschen über Rays Temprament, Selbstironie, immerwährenden Elan und Phantasie, die Welt wäre ein Hort von Kreativität, Witz, Nachsicht und ewigem Leben -- sowie verdammt gutem Rock'n'Roll." Natürlich ist das nicht möglich, ein Ray Davies ist einmalig. Das wusste natürlich auch Hofacker.

Berlin war somit ein Heimspiel für Davies, aber seine Art der Darbietung und der Wandel zwischen Hochkultur und Popmusik war eh für jeden deutschen Feuilletonisten mit Wurzeln in den 60ern eine Freude. Denn nun konnte er endlich einmal über die Helden der Jugendtage schreiben, ohne dabei von den Wächtern der E-Musik von oben herab angeschaut zu werden -- schließlich war Ray Davies auch auf Lesereise.

Die guten Kritiken zogen sich weiter bis nach Köln, wo ihn die Frankfurter Rundschau "zart und zynisch" erlebte. Zwar würde auch Davies vor allem Legenden-Pflege betreiben, aber seine Kunst bestehe "darin, dass er das Erlebte auf der Bühne auch für seine Zuschauer erlebbar mache. "Vor dem Mikro steht kein Hit-Verwalter, sondern ein 'Storyteller'; einer der die eigenen Mythen sarkastisch hinterfragt, aber auch ein paar neue Deutungen des eigenen Oeuvres nachlegt. So wird die wunderschöne Kinks-Ballade 'See My Friends' an diesem Abend zur Ode an seine im Alter von 30 Jahren verstorbene Schwester." Auch in Köln hielt sich Davies an sein übliches Programm und variierte wieder nur einen Song. Als zweite Zugabe spielte er neben "Waterloo Sunset" noch "Days" und dankte damit quasi zum Abschluss dem Publikum für drei schöne Konzerte.

Ray Davies gibt nach dem Konzert in Köln Autogramme, Foto: Denise Lattwein   Ray Davies gibt nach dem Konzert in Köln Autogramme, Foto: Denise Lattwein

Nach 1998 gab es noch des öfteren Gerüchte, Davies würde noch einmal nach Deutschland kommen. Das erste streute er selbst über einen Bericht in der 3Sat-Sendung "Kulturzeit". Dort heißt es am Ende "Im Herbst will er noch einmal kommen". Außer dieser leeren Versprechung, für die die verantwortliche Journalistin kaum etwas konnte, war der Bericht nicht nur relativ lang, sondern auch noch gut. Er zeigte ein paar Ausschnitte aus dem Kölner Programm, vor allem "That Old Black Magic" ist anderswo nicht zu sehen, und umwob den aktuellen Bericht mit der Kinks-Geschichte. Das klappte ganz hervorragend und dazu gab es auch noch ein kleines Interview, in dem Davies interessante Statements von sich gab: "Außenseiter zu sein, das hat mich angetrieben, als Student und in der Schule. Ich bin heute immer noch nicht in der Gesellschaft akzeptiert, der ich ein Denkmal setze." Oder: "Ich bereue eigentlich nicht viel. Man lernt durch Fehler. Bei dieser Show sehen sie jemanden, der Fehler macht und sich dafür entschuldigt." Das sind alles keine großartigen Aussagen, für eine Fernsehsendung, aber ungewöhnlich und natürlich auch für Davies nicht alltäglich. Auch n-tv brachte einen Bericht zur Show, wiederum Bilder vom Auftritt und die augenzwinkernde Kernaussage: Ray habe seine Weisheiten in einem "Buch des Vorsitzenden Ray" zusammengefasst. Die Tour hatte also einiges an Echo nach sich gezogen. Selbst solche Journalisten, die nicht die Spur verstanden und nicht einmal die CD gehört hatten, schrieben Rezensionen. Das Leipziger "Kulturmagazin" "ZeitPunkt" fabulierte etwas von den "Kings". Davies habe Titel wie "Lola" oder "Apeman" eingespielt, die bei den Live-Aufnahmen "zurückhaltender" geworden seien.

Noch einmal trat Ray Davies in Deutschland auf. Bei der PopKom-Messe in Köln zeigte er eingeladenen Gästen Videos aus seiner Privatsammlung und fand sich zudem bereit, einem offenbar unvorbereiteten Fernsehteam im unaufgeräumten Hotelzimmer Videos mit seinen "Greatest Hits" zu zeigen. Danach kam er nicht mehr. Im vergangenen Jahr war noch einmal die Rede von Konzerten hierzulande, aber auch diese fanden nicht statt. Im nahen Ausland spielte Davies 1999 (Salzburg und Ostende) und im Jahr 2000 gab er Konzerte in Dänemark. Skandinavien wird in diesem Jahr wieder Station sein, ein Abstecher nach Deutschland ist aber offensichtlich nicht geplant. Vermutlich werden Konzerte erst wieder stattfinden, wenn die Solo-Scheibe auf dem Markt ist. Wann das aber sein wird, steht in den Sternen.

Ray Davies: Storyteller Tour in Deutschland
  • 17. April 1998: Hamburg, Curio Haus
  • 18. April 1998: Berlin, Hochschule der Künste
  • 19. April 1998: Köln, Gürzenich
  •             Ticket von Köln, Abbildung: Thomas Bartoldus

    Setlist

  • Lola
  • Dead End Street
  • A Rock'n'Roll Fantasy (nur in Berlin)
  • Storyteller
  • Victoria
  • 20th Century Man
  • London Song
  • That Old Black Magic
  • Tired Of Waiting
  • Set Me Free
  • See My Friends
  • Autumn Almanac
  • X-Ray
  • Stop Your Sobbing
  • Art School Babes
  • It's Alright
  • Back In The Front Room
  • I'm Not Like Everybody Else
  • A Well Respected Man
  • Dedicated Follower Of Fashion
  • Back In The Front Room (2)
  • You Really Got Me
  • Waterloo Sunset (Zugabe)
  • Days (Zugabe, nur in Köln)
  • Quellen

  • Heinrich Oehmsen: "Vorbild zu sein, verwirrt mich" (Interview), Hamburger Abendblatt, 17. April 1998
  • Ein Kink kommt selten allein, B.Z., 20. April 1998
  • Ralf Schlüter: Miniaturen eines Pop-Vaters, Berliner Zeitung, 20. April 1998
  • Christian Schröder: Wir wollten Freiheit. Wir bekamen Moden, Der Tagesspiegel, 20. April 1998
  • Peter E. Müller: Erzähl' uns noch 'ne Geschichte!, Berliner Morgenpost, 20. April 1998
  • Stefan Krulle: Vergnügungsreise in die Vergangenheit der Kinks, Die Welt, 20. April 1998
  • Martin Scholz: Zart und zynisch, Frankfurter Rundschau, 21. April 1998
  • Thorsten Keller: Mitreißende Show voller Gechichten, Kölner Stadt-Anzeiger, 21. April 1998
  • Ernst Hofacker: Ray Davies, Berlin, Hochschule der Künste, MusikExpress/Sounds, Juni 1998
  • Wolfgang Doebeling: A Well respected Man, Rolling Stone, Juni 1998
  • Lothar Trampert: Who Really Got What, Gitarre & Bass 10/98
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    Redaktion: Thomas Bartoldus