Die Kinks in Deutschland (Teil 2)

Die 70er Jahre

von Hans-Georg Kwasniok und Stefan Gies

Vorbemerkung: Waren die Kinks in den 60ern noch an der Spitze der Hitparaden und füllten große Hallen, wurden sie in den 70ern auch in Deutschland zum Geheimtipp. Allerdings verfolgten die Fans ihre Taten weiterhin, auch wenn das unter Umständen größere Probleme nach sich zog. Hans-Georg Kwasniok und Stefan Gies sind bereits in den 60ern zu Kinks-Fans geworden und beide erlebten sie auf unterschiedliche Weise in den 70ern. Während Hans-Georg seine fünf Versuche schildert, die Band in den 70ern zu sehen und zu hören (in Offenbach machte er auch einige Fotos), erlebte Stefan beim einzigen deutschen Konzert der "Schoolbys in Disgrace"-Tournee schöne Stunden in Hamburg (Text und Fotos im Kasten).

Ray Davies in Offenbach 1978, Foto: Hans-Georg Kwasniok Die siebziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts!
Die aktuelle Musikgeschichtsschreibung suggeriert: Erst der Punk erlöste eine elende Dekade voller Glam- und Bombast-Rock, Plateau-Sohlen und seelenlosen Konzept-Alben
... von sich selbst ...
Eine andere Lesart behauptet: es war die Zeit der komplizierten artifiziellen Verästelungen in der Rock-Musik - mit variablen Übergängen zur (selbsternannten) musikalischen Avantgarde.

Gleichwohl gibt es unter den Fans der Kinks nicht wenige (und ich gehöre dazu), die von jenen Siebzigern als einer Epoche schwärmen, die die produktivste und experimentellste der Band gewesen war: Ihr kommerzieller Niedergang als schier unerschöpfliche Hit-Single-Maschine war mit Lola / Apeman 1970 definitiv besiegelt. Bekanntlich sollte es bis zu Come Dancing (1983) dauern, bis wieder etwas „für die Charts taugliches" ins Rennen geschickt werden konnte.

Die Kinks aber ließen sich mit der großen RCA ein und produzierten ihre famosen Konzeptalben und verstörenden Operetten: "Muswell Hillbillies", "Everybody's in Showbiz", "Preservation Act I", "Preservation Act II", "Soap Opera", "Schoolboys in Disgrace".

Für die atemlosen Fans, die in diesen aufregenden Jahren gezwungen wurden -- man stelle sich vor -- jedes Jahr ein neues Album zu kaufen, waren dies natürlich rein mediale Ereignisse: allein die Langspielplatten und ihre mehr oder minder glanzvollen Verpackungen transportierten die Botschaften.
In Kontinentaleuropa (den Kinks selber damals eher fern) gab es noch verblassende Erinnerungen an kurze, nicht übermäßig auffällige Live-Auftritte der Band in den Sechzigerjahren, aber fleißig tourten sie in der ersten Hälfte der 70er (außer in England) doch wohl vornehmlich in den USA!

1971 erfolgte mein erster Versuch am 17. März in der Stadthalle Offenbach und große Vorfreude: Endlich die Gruppe auf der Bühne sehen, die einem seit You really got me natürlich bekannt, aber mit "Tired Of Waiting", "See My Friends", "I'm Not Like Everybody Else", "Dead End Street", "Waterloo Sunset", "Wonderboy" oder "Big Sky" geradezu innig vertraut war!
Am Tag vor dem Konzert erfolgte die Absage übers Radio! Tickets wurden relativ problemlos zurückgenommen. Traurig, sehr traurig!

1972 ein zweiter Versuch am 22. Mai beim Open-Air-Festival in Germersheim: Wir waren eine kleine Reisegruppe, von der magischen Ausstrahlung des Festivals (oder von was auch immer) äußerst betört und überdreht, Gott-und-die-Welt sollten auftreten (Floyd, Frumpy, Family), beautiful people, so weit das Auge reichte ...
Ich konnte meine Helden das erste Mal auf der Bühne sehen (mit John Dalton am Bass, John Gosling, Orgel, Piano) -- und war enttäuscht! Plötzlich lebendig gewordene Musik-Magazin-Fotos agierten seltsam distanziert auf der Bühne, gebellter Gesang, quengelige Gitarren, blechernes Schlagzeug.
Mir ist nicht viel von diesem Ereignis in Erinnerung geblieben, außer dem Gefühl, dass sich dem Publikum die Einzigartigkeit dieser Band und dieses wenig inspirierenden Auftritts irgendwie nicht zu erschließen schien. Der Gig wirkte lustlos, so gar nicht "professionell", ein bisschen schrammelig, ein bisschen "Oh, Demon Alcohol!", und ich kann mich daran erinnern, dass ich den Abgrund realisierte, der sich grausam auftun kann zwischen einem perfekt gestriegelten Studio-Song und einer runter genudelten Live-Fassung, die sich ausnahm, wie aus'm Übungskeller gekrochen.

Flugblatt1974 der nächste Versuch. Ich denke zumindest, es war 1974. Bei Doug Hinman kann ich keinen Hinweis finden auf dieses Ereignis, was irgendwo im westdeutschen "Ruhrpott" stattfand (Essen, Dortmund?!):
Sieben Bands sollten in einer Halle hintereinander auftreten, angefangen mit einer nervigen deutschen (damals völlig unbekannten) Band: Scorpions. Dann Man aus Wales. Dann Procol Harum, deren Auftritt ich genoss, das weiß ich noch. Die KINKS sollten der Höhepunkt werden: Plötzlich ging ein Flugblatt (Abbildung) durch die Zuschauerreihen, der Auftritt der Band müsse abgesagt werden, weil Dave Davies krank sei, und dann stand geraume Zeit später tatsächlich Mick Avory auf der Bühne und entschuldigte sich in seinem unnachahmlichen Sound beim Publikum -- sehr traurig, sehr sehr traurig!!

1976, ich lese im Frühsommer in der deutschen Musik-Zeitschrift "Sounds" vom Auftritt der Kinks in Hamburg. "Schoolboys on stage". Einmaliger Auftritt. Den ich verpasst habe, von dem ich erst hinterher etwas erfahre. Andere hatten mehr Glück. Stefan Gies erlebte das Konzert und die Zeit davor so:

Kinks in Hamburg, Foto: Stefan Gies

31. März 1976, Congress Centrum Hamburg

Jetzt war ich schon seit elf Jahren Kinks-Fan und hatte meine "Helden" noch nie live gesehen. Die Konzerte der 60er Jahre hatte ich verpasst und in den 70er Jahren erfuhr ich erst von dem Hamburger Konzert im März 1976. Schon früh hatte ich mir für das Konzert Karten besorgt (Reihe 8, Platz 5, 20 DM) und obwohl es erst um 20 Uhr beginnen sollte, fuhr ich schon gegen 7 Uhr mit meinem alten Käfer von Köln nach Hamburg. Ich war voller Vorfreude und natürlich bestens ausgerüstet mit einem Fotoapparat und einem Uher-Report (ein tragbares Stereo Tonbandgerät).

Ray Davies im Hotelfoyer in Hamburg, Foto: Stefan GiesIn Hamburg angekommen hörte ich mir wohlbekannte Klänge im Autoradio: "Shangri-La" (glaub ich jedenfalls) und anschließend ein Interview mit Ray Davies. Ich hielt beim nächsten Taxistand und erkundigte mich nach dem NDR Funkhaus. Als ich dort schließlich ankam, waren die Kinks leider nicht mehr da, aber ich lernte Christian Wagner kennen, den Regisseur des legendären Rockpalastes, der ebenfalls nur wegen der Kinks dort war und zwar mit der Absicht, sie für seine Sendung zu verpflichten (was ihm schließlich 5 Jahre später gelingen sollte). Es stellte sich heraus, dass er ebenfalls ein großer Kinks-Fan war und er gab mir den Tipp, es doch einmal im Hotel des Congress Centrums zu versuchen, dort würden die Kinks wohnen. Also fuhr ich zum besagten Hotel und setze mich in die Lobby.

Nach ca. 20 Minuten stockte mir der Atem, ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen und ich bekam nasse Hände und Schweißausbrüche. Mick Avory kam die Treppe herunter und ging zur Rezeption. Ein paar Minuten später folgten Dave und Ray Davies, John Dalton und John Gosling. Ich dachte "jetzt oder nie", fasste all meinen Mut zusammen und ging zu Mick Avory und Dave Davies. Ein Freund von mir machte Fotos und ließ den Uher-Report mitlaufen, während ich mit meinem Schulenglisch irgendeinen Blödsinn quatschte. Mick Avory nahm sich Zeit mit mir zu sprechen und war sehr freundlich (was auch auf die anderen zutraf). Als ich Dave Davies zu einem Bier einladen wollte, sagte er, dass er leider zur Probe müsste, aber wenn ich Lust hätte, könnte ich sie ja begleiten. Es war Wahnsinn, auf einmal stand ich mit den Kinks auf der Bühne, nahm alles auf und machte Fotos, während sie ihren Soundcheck machten und improvisierten. Sie standen damals mit elf Leuten auf der Bühne, neben den fünf genannten waren es noch Nick Newell, John Beecham, Alan Holmes, Pam Travis, Shirley Roden und Debby Doss.

Ray Davies in Hamburg, Foto: Stefan Gies Nach ungefähr zwei Stunden war der Soundcheck vorbei und ich war der glücklichste Mensch auf Erden, obwohl der eigentliche Höhepunkt, das Konzert, noch gar nicht begonnen hatte. Das Konzert war zwar eine rundum gelungene Show, mit ein paar Klassikern zu Beginn und der anschließenden "Schoolboys in Disgrace" Show, konnte aber mein Nachmittagserlebnis nicht toppen.

Ray Davies lieferte seine damals schon fast perfekte Bühnenshow ab (Bierdose auf dem Kopf bei "Alcohol") und trat als "Headmaster" mit der bekannten Maske auf. Dave beherrschte seine Gitarre wie eh und je und spielte phantastische Soli. Neu war für mich, dass die Ansagen zur Erläuterung der Story von einer der Sängerinnen auf Deutsch gemacht wurden.

Übrigens: Durch den Uher-Report ist der Soundcheck sowie meine grausamen Interviewversuche der Nachwelt erhalten geblieben.

Über das verpasste Konzert hinweg trösteten mich die allerersten raren Bootlegs: Kriminal Kinks (Klangqualität: so hörte sich ein kleines Transistor-Radio aus 30 Meter Entfernung an) mit einer "Little Queenie" dass die Fetzen fliegen! Dann -- wunderbar! -- "Don't Touch That Dial" (diese Version des "Rush Hour Blues" muss die sein, die auf dem offiziellen Album "Soap Opera" wohl gemeint war). Schließlich "Winterland 1 & 2", mit einem "Brother", der nicht nur die schwesterlichen Brüder in San Francisco entzücken musste. Diese Boots belegen auch, wie die Kinks in den Siebzigerjahren klingen konnten.

1978 am 23. Oktober erneut ein Versuch in der Offenbacher Stadthalle -- diesmal geglückt. Die Band spielt. Irgendwie bleich aber gut gelaunt stehen die Gebrüder Davies auf der Bühne. Gordon Edwards, Jim Rodford und Mick Avory vervollkommnen die Entourage der "Misfits-Tour" (John Beecham auch dabei mit gelegentlichem Bläsereinsatz). Ein sehr schönes Konzert! Kraftvoll, aber auch witzig. Vorbei war die Zeit der Konzeptalben, die es auf dem alten Kontinent als Show ohnehin (fast) nicht zu sehen und zu hören gab Balladen und Rock-Musik auf dem Punkt!

Mick Avory in Offenbach, Foto: Hans-Georg Kwasniok   Jim Rodford in Offenbach, Foto: Hans-Georg Kwasniok   Dave Davies in Offenbach, Foto: Hans-Georg Kwasniok

1979 brachte am 31. Oktober die "Low-Budget-Tour" die Frankfurter Jahrhunderthalle zum Erbeben! Eine selbstbewusste Band (Ian Gibbons an den Keyboards) rockte "(Wish I could fly like) Superman", dass einem der Atmen stockte. Der Everly-Brothers-Gassenhauser "Bird Dog" bescherte den anwesenden älteren Jahrgängen heftigstes Kniewippen, die Jüngeren faszinierte ein umwerfender Entertainer Ray Davies. Dave Davies hatte die Gitarren-Helden-Pose souverän ausgebaut. Eine Profi-Band gab sich die Ehre -- "You really got me"!

Noch zwei Nachträge von Hans Georg Kwasniok:

Nachtrag Eins:
Die Achtziger- und gar erst die Neunzigerjahre sollten bessere Perspektiven eröffnen, aber das ist ein anderes Thema …

Nachtrag Zwei:
Ich habe sie in diesen Jahren nicht als Live-Band eingeordnet, ich habe die Platten „erlebt". Die Kinks erbastelten sich Konzeptalben ureigenster Qualität: Ray Davies schien über zwei Dutzend Gesangsstimmen zu verfügen, die es ihm ermöglichten, unfassbar viele musikalische Rollenspiele zu betreiben, darüber hinaus stießen die Arrangements der einzelnen Songs immer wieder kleine Erinnerungsspuren an … Selbstironie und freches Fremdzitat:
Wo hat man dieses, wo hat man jenes schon einmal gehört??
Dann wieder herrliche Gitarrenpassagen von Dave Davies oder Choreinlagen der Extra-Klasse! Dass es gelegentlich etwas dröge-didaktisch zuging, was die textliche Vermittlung anging, egal! Preservation I & II speziell gehören zu den übersehenen und heute fast vergessenen Höhepunkten der Rockmusik der 70er Jahre!

Live-Auftritte in Deutschland 1970-1979

Quelle: Doug Hinman: All Day And All Of The Night
Da ich mit Bezug auf Thorsten Schmidt (wohl bester Kenner der Beat-Club-Geschichte) das Datum dort 1969 für sehr unwahrscheinlich halte, führe ich es nicht in der Liste (hb).
Nr.DatumHalle/OrtStadtTitel, Support etc.
4125.7.1970EiderlandhallePahlen/HeideShow & zumindest Termin unklar
426.9.1970Open AirBurg, Fehmarnmit Procul Harum, Incredible String Band, Cactus, Fat Mattress, Emerson Lake & Palmer
4320.5.1972Insel GrunGermersheim (Fiesenheimer Halbinsel)Zweites britisches Rock Treffen (Whitsunitide) mit Pink Flyd, The Faces, Humble Pie, Incredible String Band, Atomic Rooster, Buddy Miles Express, The Dorrs, Family, Osibisa, Curved Air, Linda Lewis, Tom Paxton und andere (drei Tage Festival)
4431.3.1976CCHHamburgSchoolbys In Disgrace Tour
4527.5.1977Cirkus Krone BauMünchen
4616.10.1978DeutschlandhalleBerlinmit Cafe Jaques
4717.10.1978MusikhalleHamburgmit Cafe Jaques
4823.10.1978StadthalleOffenbachmit Cafe Jaques
4924.10.1978StadthalleErlangenmit Cafe Jaques
5025.10.1978Cirkus Krone BauMünchenmit Cafe Jaques
5125.10.1979AudimaxHamburgmit Kanyon
5226.10.1979Westfalenhalle (2?)Dortmundmit Kanyon
5327.10.1979Neue WeltBerlinmit Kanyon
5429.10.1979StadthalleBremenmit Kanyon
5530.10.1979NiedersachsenhalleHannovermit Kanyon
5631.10.1979JahrhunderthalleFrankfurtmit Kanyon
572.11.1979Cirkus Krone BauMünchenmit Kanyon
583.11.1979SporthalleCrailsheimmit Kanyon
594.11.1979PhilipshalleDüsseldorfmit Kanyon
605.11.1979RosengartenMannheimmit Kanyon

Auftritte im deutschen Fernsehen 1970-1978

Quelle: Doug Hinman. All Day And All Of the Night
Nr.AufnahmedatumSendungsdatumArtSong(s)SendungSenderOrt der Aufnahme
108.8.19708.8.1970?Lola4-3-2-1 Hot'n'SweetZDFStuttgart, Killesberg
1112.4.197227.5.1972liveMuswell Hillbillies; erst 1981 gezeigt: You Really Got Me/All Day And All Of The Night, LolaBeat ClubARDBremen
1217.11.197817.11.1978playbackFather ChristmasPlattenkücheARDKöln

Setlist Kinks in Hamburg 1976

  1. Intro
  2. Everybody`s a Star
  3. Rush Hour Blues
  4. Lola
  5. Dedicated Follower of Fashion
  6. Waterloo Sunset
  7. You really got me/All Day and all of the Night
  8. Alcohol
  9. Celluloid Heroes
  10. Schooldays
  11. Schoolboys
  12. Announcement
  13. Jack the Idiot dunce
  14. Education
  15. First Time we fall in Love
  16. I'm in disgrace
  17. Headmaster
  18. First Time we fall in Love (reprise)
  19. Hard Way
  20. The last Assembly
  21. No more looking back
  22. Finale
  23. Money talks

Redaktion & Listen: Helge Buttkereit